Schach am Ende der Welt
die 78 Schachfiguren aus schimmerndem Walrosselfenbein, geschnitzt vermutlich in den Jahren 1150 bis 1200. Die sogenannten «Lewis Chessmen», die 1831 entdeckt wurden, wirken keineswegs alt, sondern sind erstaunlich lebendig. Sie erzählen von einer nordischen Welt, die trotz der Distanzen übers Meer eng vernetzt war.
Könige, Königinnen, Bischöfe, Reiter, Kämpfer und Bauern. Schon um 1200 waren grosse Teile der Welt ganz närrisch auf das Schachspiel. Entstanden ist es wahrscheinlich in Indien, irgendwann nach dem Jahr 500. Von dort hat es sich im Nahen und Mittleren Osten verbreitet und gelangte über skandinavische Händler in Russland oder über Süditalien und Spanien ins christliche Europa.
Im 11. Jahrhundert war es an den Königs- und Fürstenhöfen, aber auch an Bischofssitzen so beliebt, dass Kirchenreformer Gegensteuer gegeben haben. Doch der kirchliche Mahnfinger nützte nichts. Der Siegeszug des Schachs war nicht mehr aufzuhalten. Um es moralisch annehmbar zu machen, wurde der strategische Charakter des Spiels hervorgehoben, im Gegensatz etwa zum Würfelspiel, das nur auf Glück basierte. So kam es, dass Schach im Verlauf des 12. Jahrhunderts Teil der adligen Erziehung wurde. Und Schachfiguren und Schachbretter zu kostbarem Besitz und Statussymbolen.
Die Lewis Chessmen geben viele Rätsel auf, erzählen aber auch einiges über die damalige Gesellschaft. Sie gehören zu mindestens vier unvollständigen Spielen. Nur 19 Bauern sind erhalten, notabene die einzigen Figuren ohne menschliche Züge. Sie stehen für die Frauen und Männer,die zu Fronarbeit und Kriegsdienst herangezogen wurden und in der sozialen Ordnung keine Identität besassen.
Auf der anderen Seite der Hierarchie nehmen insgesamt acht Könige und acht Königinnen Platz, auf kunstvoll verzierten Thronen. Viele Figuren sind individuell gestaltet mit persönlichem Ausdruck und feinen Details. Die höchste Figur im Schachspiel sitzt mit stoischer Miene da. Gebieterisch halten die Könige ihr Schwert über den Knien, die langen Haare sind in dicken Zöpfen drapiert. Einige haben gut getrimmte Bärte.
Die Königin – unsere heutige Dame – trägt unter ihrer Krone einen Schleier und geht damit ganz mit der zeitgenössischen Mode. Auffällig ist die Haltung der Herrscherfrauen. Alle stützen ihr Kinn auf die rechte Hand und grübeln. Denken sie nach oder sind sie schlechter Laune? Die Königin taucht nur auf Schachbrettern im christlichen Europa auf, in islamischen Gebieten nimmt ein Wesir, ein männlicher Berater, ihr Feld ein. Die hohe Stellung und öffentliche Rolle der Frau des Monarchen finden unmittelbar ihren Niederschlag im Spiel.
Die Königin taucht nur auf Schachbrettern im christlichen Europa auf, in islamischen Gebieten nimmt ein Wesir, ein männlicher Berater, ihr Feld ein.
Direkt neben den beiden Herrscherfiguren stellen sich die Bischöfe auf, von denen es 16 gibt. Sie sind an ihrer traditionellen Kopfbedeckung, der Mitra, und ihrem Krummstab zu erkennen, den sie an ihre Wangen pressen. Wo heute die Läufer stehen, positionieren sie sich als wichtige Machthaber im mittelalterlichen Staatswesen. Sie sind nicht nur geistliche Amtsträger, sondern auch weltliche Landesherren, nicht zuletzt auf dem Schlachtfeld. Wie passend dieses Abbild ist, zeigt ein Blick auf die Geschichte: Die Kreuzzüge fallen genau in diese Zeit.
Die Reiterfigur hingegen unterlag keinem grossen Wandel. Schon im indischen Schachspiel ist sie vorhanden und hat sich bis heute nicht wesentlich verändert. Die 15 Ritter sitzen auf kräftigen kleinwüchsigen Pferden – nordische Ponies würden wir sagen. Einige Figuren tragen einen Nasalhelm. Das sind Helme mit einem Nasenstück, die nicht nur den Kopf, sondern auch das Gesicht schützen sollten. Dieser Helmtyp ist vom 9. bis 12. Jahrhundert weitverbreitet. Beispielsweise wird er von den normannischen Kriegern auf dem Wandteppich von Bayeux getragen.
Als einzige Figur blickt ein Kämpfer nicht geradeaus, sondern schielt verstohlen nach links.
Die Ecken des Bretts schliesslich verteidigen Kämpfer oder Wächter. Diese Figur hat sich zu unserem Turm entwickelt. Die 12 Fusssoldaten sind bis über die Ohren bewehrt und geben sich kampfbereit. Wunderbar sind die furchteinflössenden «Berserker», die mit ihren Zähnen auf die Oberkante ihres Schildes beissen. Berserker ist ein Wort aus dem Isländischen und bezeichnet einen Soldaten, der ein Hemd aus Bärenfell trägt. Noch heute benutzen wir diesen Ausdruck für einen Menschen, der wild um sich wütet. Aber auch unter den skandinavischen Horden fehlen humorvolle Momente nicht: Als einzige Figur blickt ein Kämpfer nicht geradeaus, sondern schielt verstohlen nach links.
Es bleibt offen, ob die eigenartigen, bisweilen komischen Wesenszüge der Lewis Chessmen gewollt waren oder ob wir sie heute nicht mehr richtig verstehen. Möglich ist, dass mehrere Hände in derselben Werkstatt die Figuren geschnitzt und sich Freiheiten in der Gestaltung genommen haben. Sicher ist die eine oder andere Form auch der Beschaffenheit des Materials geschuldet. Auf jeden Fall berühren uns die psychologischen Feinheiten aus der fernen Epoche und die Distanz von über 800 Jahren wird mühelos überbrückt.
Die grosse Bedeutung des Schachspiels in der europäischen Adelsgesellschaft des 12. Jahrhunderts ist eine Erklärung dafür, warum die kunstvoll gefertigten Lewis Chessmen ihren Weg bis an den äussersten Rand unseres Kontinents gefunden haben. Eine andere ist die enge Verflechtung der abgelegenen schottischen Inseln mit der nordischen Welt. Die Äusseren Hebriden waren ein wichtiger Stützpunkt auf dem Handelsweg zwischen Skandinavien und Irland. Gerade in der Zeit, in der die Schachfiguren geschnitzt wurden, verstärkte sich der skandinavische Einfluss. Beispielsweise gliederte der mächtige Erzbischof von Trondheim in Norwegen die Isle of Lewis 1153 in seinen Machtbereich ein. Die Kultur auf der Insel war eine Mischung aus Gälisch und Skandinavisch.
Das Material, aus dem die Schachfiguren geschnitzt sind, verdeutlichen die engen Verbindungen. Die Lewis Chessmen sind fast ausnahmslos aus den Stosszähnen von Walrössern geschnitzt. Walrosselfenbein stammte aus den nördlichen Regionen Norwegens und aus Grönland, das seit dem 11. Jahrhundert von den Skandinaviern besiedelt wurde. Einer der Hauptumschlagplätze für das wertvolle Material war eben Trondheim, 250 Kilometer nördlich von Oslo gelegen. Der Hof rund um den Erzbischof stimulierte den Markt und machte die Stadt zu einem grossen Zentrum für die spezialisierte Schnitzerei aus Walrosselfenbein. Tatsächlich sind die Gegenstände, die dort hergestellt wurden - beispielsweise Teile aus der Ausstattung von Trondheimer Kirchen - mit den Lewis Chessmen stilistisch nah verwandt.
Die Lewis Chessmen geben viele Rätsel auf, erzählen aber auch einiges über die damalige Gesellschaft.
So vermutet man heute den Ursprung der Schachfiguren rund um Trondheim, von wo sie auf dem Seeweg auf die Äusseren Hebriden gekommen sind. Daneben gibt es auch Voten für eine Herstellung auf Island, Irland, Schottland, England oder Dänemark. So oder so, der eigentliche Besitzer wird wohl nie ans Licht kommen. Gehörten sie einem Händler, der sie einem lokalen Machthaber auf der Isle of Lewis verkaufen sollte? Oder waren sie für eine hochgestellte Person in Dublin gedacht? Man weiss es nicht. Die Schachfiguren, die vor fast 200 Jahren entdeckt wurden, lagen in einer kleinen Steinkammer, verborgen unter einer Sandbank am weitläufigen Strand von Uig. Irgendjemand hat sie dort vielleicht aus Sicherheitsüberlegungen versteckt, war aber später nicht mehr in der Lage, sie abzuholen.
Heute können wir die Lewis Chessmen an drei Standorten betrachten. 67 Figuren stehen in den Vitrinen des British Museum in London und elf befinden sich im National Museum of Scotland in Edinburgh (von ihnen gibt es auch einen 3D-Scan). Nur eine einzige Schachfigur hat in ihre Heimat zurückgefunden und ist zurzeit in Stornoway auf der Isle of Lewis ausgestellt, als Leihgabe aus London.