"Wo Menschen arbeiten, passieren Fehler."
Der Maurer war damit beschäftigt, die Innenwände der eben neu errichteten Klosterkirche zu verputzen. Da passierte ihm ein Missgeschick, dessen Spuren immer noch sichtbar sind.
Der Arbeitsplatz des Handwerkers war ungewöhnlich. Das Kloster in Müstair gehört zu den bedeutendsten Bauten aus karolingischer Zeit, die sich bis heute erhalten haben. Es liegt im südöstlichen Zipfel des Kantons Graubünden ganz an der italienischen Grenze. Die Umstände seiner Gründung im 8. Jahrhundert waren hochpolitisch. Der Standort des Klosters wurde umsichtig gewählt, kreuzten sich doch im nahen Umkreis mehrere Alpenpässe, die von der Lombardei und vom Veneto nach Norden führten. Die Kontrolle von Handel und Verkehr war Voraussetzung für die Sicherung der Region. Für das Bistum Chur, das damals in etwa das heutige Graubünden und den Vinschgau umfasste, war das Kloster somit ein wichtiges politisch-kulturelles Machtzentrum. Dies umso mehr, weil der Churer Bischof in dieser Zeit das geistliche Amt als Bischof und das weltliche Amt als Verwalter von Churrätien in einer Person vereinigte, also eine Art autonome Bischofsherrschaft ausübte.
An diesem Hotspot der karolingischen Politik im alpinen Münstertal war unser Maurer an der Arbeit.
Die Anlage des Klosters wurde aus einem Guss geplant und erreichte ungewöhnliche Dimensionen. Die Bauarbeiten begannen mit der Klosterkirche und setzten sich im Südwesten nach durchdachtem Gesamtplan zügig fort. Dort entstanden um einen rechteckigen Innenhof vier doppelgeschossige Klostertrakte von 60 Metern Länge und 16 Metern Breite, die mit einem Kreuzgang verbunden waren. Diese streng strukturierte Anordnung, die für uns gleichsam der Inbegriff einer Klosteranlage ist, war damals noch keineswegs üblich. Sie setzte sich erst viel später, nämlich im 12. Jahrhundert, richtig durch. Müstair war eine Wegmarke in dieser Entwicklung. In einer letzten Bauetappe, nur 13 Jahre nach der Grundsteinlegung, entstand die Heiligkreuzkapelle im Südosten des Klostergevierts, die mit ihrem kleeblattförmigen Chor ins Auge springt.
Der Ausbaustandard von St. Johann übertraf andere Klöster im Bistum Chur bei weitem, sogar die damalige Bischofsresidenz in Chur selbst. Herdstellen und Ofenanlagen sorgten im ganzen Kloster für wohlige Wärme. Nicht einmal auf ein Warm- und Kaltbad mussten hochrangige Besucher verzichten. Farbiges Fensterglas, importiertes Keramikgeschirr aus Italien, ornamentierte Marmorplatten aus den Steinbrüchen von Laas im Vinschgau, plastischer Stuckdekor und nicht zuletzt die üppige Ausmalung der Klosterkirche mit einem Wandmalereizyklus machen Müstair zu einem Juwel in der frühmittelalterlichen Klosterbaukunst. Von der karolingischen Anlage sind die Klosterkirche und die Heiligkreuzkapelle in ihren wesentlichen Zügen erhalten. Die übrigen Gebäude wurden in archäologischen Ausgrabungen nachgewiesen.
Das Bauvolumen war so gewaltig und die Ausstattung so hochklassig, dass der Bischof allein nicht als Auftraggeber in Frage kommen konnte. Die Forschung versucht Licht in die spannende Gründungsgeschichte des Klosters zu bringen, aber noch ist die Frage nicht abschliessend geklärt. Zu Recht wird davon ausgegangen, dass neben dem Churer Bischof auch das karolingische Königshaus hinter dem Neubau in Müstair gestanden haben musste.
St. Johann war nicht nur ein Ort des Glaubens, sondern auch ein strategischer Stützpunkt einer aufsteigenden Grossmacht in Europa.
Das Kloster dürfte eine strategische Rolle gespielt haben in der Expansionspolitik Karls des Grossen gegen die Langobarden im Süden und gegen die Bajuwaren im Osten. Die zeitliche Übereinstimmung ist frappant: Im Sommer 773 startete der Frankenherrscher die Eroberung des Langobardenreiches in Italien und kehrte 774 als König der Langobarden erfolgreich zurück. Nur ein Jahr später wurde im Münstertal, also im Rücken der neu eroberten Gebiete, mit dem Bau des Klosters begonnen. Dieses Datum ist gesichert, weil das in der Kirche verwendete Bauholz mit dendrochronologischen Untersuchungen genau auf das Jahr 775 datiert werden konnte. Gut zehn Jahre später war auch der Bajuwarenherzog Tassilo entmachtet und dessen Herrschaftsgebiet ins karolingische Reich eingegliedert. Auch wenn es keine schriftlichen Quellen gibt, dass Karl der Grosse persönlich an der Gründung von Müstair beteiligt war. Überregionale politische Motive und Ansprüche spielten auf jeden Fall mit. St. Johann war nicht nur ein Ort des Glaubens, sondern auch ein strategischer Stützpunkt einer aufsteigenden Grossmacht in Europa – Verwaltungszentrum, Herberge, Gutsbetrieb, Werkstatt, Vorratslager und Bildungsstätte in einem.
An diesem Hotspot der karolingischen Politik im alpinen Münstertal war unser Maurer an der Arbeit. Es muss eine Grossbaustelle gewesen sein, womöglich mit „Baumönchen“, die selbst angepackt haben. Vermutlich waren auch langobardische Bauleute aus Oberitalien vor Ort. Die Parallelen zwischen Müstair und der langobardischen Baukunst sind unübersehbar. Sicher hat Karl der Grosse bei seinem Eroberungsfeldzug im Jahr 774 Bauten der Langobarden gesehen. Hat er vielleicht sogar einen Trupp Bauarbeiter bei seiner Rückkehr mitgenommen und auf der Baustelle in Müstair gelassen?
Der Maurer war daran, die Laibung des Fensters in der Südapsis zu verputzen. Der Putz war noch feucht, als er wahrscheinlich aus dem Gleichgewicht kam und sich mit seinem Körper an der Wand abstützte. Dabei hinterliess sein Gewand einen Abdruck. Die Textur des gewobenen Stoffes ist von nahem deutlich sichtbar, auch unter den Malereien, mit denen die Wände anschliessend ausgemalt wurden: Es handelt sich um einen sogenannten Rautenköper, eine Stoffart, die schon die Römer verwendeten und im Frühmittelalter verbreitet war. Dieses unscheinbare Detail ist nicht nur ein Fundstück aus einer Zeit, in der es praktisch keine textilen Überreste gibt. Es lässt auch einen Alltagsmoment aus einer fernen Welt aufscheinen, der uns immer noch berührt.