Bergwelten hautnah 2023
Wer mit offenen Augen und Ohren unterwegs ist, entdeckt überall, mit wieviel Sachkenntnis und Sorgfalt die Menschen das Leben in dieser kargen Welt meistern. Wenn finanzschwache Berggemeinden notwendige Vorhaben nicht aus eigener Kraft finanzieren können, ist die Schweizer Patenschaft für Berggemeinden zur Stelle. Eine solidarische Zusammenarbeit, die allen zugutekommt.
Der folgende Text ist ein Auszug aus «Bergwelten hautnah 2023», einer Broschüre, die jährlich an die Gönnerinnen und Gönner der Schweizer Patenschaft für Berggemeinden verschickt wird.
Text: Kathrin Peter, Bilder: Marco Volken
Im Hinterland von Lugano versteckt sich ein Tal, welches das grosse Rampenlicht scheut. Umgeben von einem gleichmässigen Gipfelkranz liegt es wie in einer bewaldeten Muschel. Die Weitsicht vom breiten Grasrücken des Monte Bar ist atemberaubend, die Atmosphäre in den bizarren Felstürmen der Denti della Vecchia einzigartig. Aber erst das nähere Hinsehen eröffnet den ganzen Reichtum dieser ursprünglichen Kulturlandschaft.
Von Lugano aus den Monte Rosa bewundern. Das ist kein Slogan aus einem Werbeprospekt. Tatsächlich gehören drei Viertel der Fläche des Val Colla seit zehn Jahren zur grössten Stadt im Tessin, so auch der 2115 Meter hohe Gazzirola. Abgelegen sind die gut ein Dutzend kleinen Bergdörfer immer noch. Nach wie vor sind sie nur über kurvenreiche und schmale Strassen zu erreichen. Doch unter dem Dach von Lugano erhält das Val Colla mehr Handlungsspielraum. In Maglio di Colla sind es die Kinder, die Leben ins Dorf bringen, nicht nur auf den Pausenplatz, sondern auch in die neue Bibliothek. Dort treffen sich die Eltern mit den Jüngsten des Tals. 200 Höhenmeter weiter oben, in Colla, wird gerade das Alterszentrum renoviert. An herrlicher Lage können die älteren Einheimischen ihre geliebte Landschaft überblicken. Die meisten der rund tausend «coleta»,der Menschen, die im Val Colla wohnen, pendeln in den Grossraum Lugano. Für sie gehört der Spagat zwischen Bergtal und Grossstadt zum Alltag.
«Es war das Tal der Kesselflicker, sie gingen mal hierhin und mal dorthin, um zu arbeiten.» Persönliche Erinnerungen an die typische Berufsgruppe im Val Colla gibt es nur noch wenige. Der Beruf der wandernden Kesselflicker ist in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts ausgestorben. Zuvor haben viele Männer ihre Familie monatelang verlassen, um in Norditalien von Dorf zu Dorf zu ziehen und auf der Piazza Töpfe zu reparieren
Um die Zugehörigkeit untereinander zu betonen, entwickelten die «magnán» in der Fremde einen eigenen Jargon, der für Aussenstehende unverständlich war, das sogenannte «Rügín». Kehrten die Männer für das Weihnachtsfest zurück ins Tal, nahmen sie ihn mit, sodass auch die Frauen und Kinder bald diese «Geheimsprache» benutzten. Mit den Kesselflickern ist das Rügín allmählich verschwunden. Die letzten Reste dieser Tradition konnten jedoch vom «Archivio audiovisivo di Capriasca e Val Colla» gerettet werden. In über 180 Stunden Interviews gaben ältere Bewohnerinnen und Bewohner die Eigenheiten ihrer Sprache und ihrer Geschichte preis – ein kultureller Schatz von besonderem Wert.
Neben der saisonalen Auswanderung emigrierten viele «valcollini» für lange Zeit oder für immer nach Übersee. Fehlten die Männer im Tal, füllten die Frauen die Lücke. Sie waren es, welche zweimal am Tag zu den «barchi» aufstiegen, um die Tiere zu melken. Diese charakteristischen Ställe mit Pultdach stehen auf Geländeterrassen oberhalb der Dörfer. Sie wurden nicht bewohnt, sondern nur für das Vieh genutzt. Tagsüber arbeiteten dieselben Frauen nicht selten in den Textilfabriken des Luganese. Und am Ende der Woche verkauften sie zusätzlich Pilze, Heidelbeeren und Blumen auf dem Wochenmarkt in der Stadt.
Ebenso präsent waren die «donne» bei den Aufforstungen am Monte Bar. Als kurz vor 1900 die kahl geschlagenen Hänge bepflanzt wurden, schleppten sie die jungen Bäume auf den Berg. Mit weiblicher Kraft gelangte auch ein grosser Teil der Baumaterialien zur Stelle, wo 1936 die Capanna Monte Bar errichtet wurde. Im Winter schnallten die Frauen von Bidogno sogar Ski auf ihre Tragkörbe, um den ersten Touristen für ein paar Franken eine stiebende Abfahrt zu ermöglichen. Kurzum, die Frauen waren «l’anello forte», das starke Glied, das die Gemeinschaft zusammenhielt.
Als wäre eine Landesgrenze nicht genug, besitzt das Val Colla auch eine markante geologische Kontaktzone. Im Gebiet der Capanna Pairolo stösst der Gneissockel im Norden auf die Kalkfelsen der Denti della Vecchia. Wie Urgestalten ragen die zerfurchten Nadeln aus der sanft gewellten Umgebung. Die «Zähne» bestehen aus sprödem Dolomit und damit aus demselben Gestein, das der berühmten Gebirgsgruppe in den italienischen Ostalpen ihren Namen gegeben hat. Das darin enthaltene Magnesium färbt sie hell, manchmal fast weiss, was im wechselnden Sonnenlicht traumhafte Stimmungen hervorzaubert. Die felsige Szenerie lebt auch vom Kontrast mit den kompakten Baumkronen, die sie umschliessen. Direkt am Fuss der Denti della Vecchia breiten sich majestätische Buchenwälder aus. Traditionell herrscht unter dem Laub der hochgewachsenen Buchen ein feuchtes Mikroklima. Der Boden ist frisch und die gefallenen Blätter kleben zu einer modrigen Masse zusammen. Doch mit den langen niederschlagsarmen Perioden der letzten Jahre trocknet diese Streuschicht im Wald immer mehr aus. Damit verändern sich die Bedingungen für viele Lebewesen, und es entsteht unbemerkt ein gefährlicher Zunder.
Waldbrände gehören im Val Colla zur Realität. Vor 50 Jahren musste die Feuerwehr allein in diesem Tal durchschnittlich siebenmal im Jahr ausrücken. Unvergesslich ist das riesige Feuer, das im Dezember 1973 die ganze rechte Talseite erfasste und oberhalb der Hauptstrasse Wald und Wiesen komplett zerstörte. Seither hat sich vieles getan. Die Erfahrung von hunderten von Einsätzen wurde genutzt, um im Tessin ein einzigartiges Waldbrandmanagement einzurichten.
Das ist nach wie vor vonnöten. Besonders die Monate Dezember bis April sind brandgefährlich. Letzten Winter stand die Feuerwehr von Lugano während dreier Monate rund um die Uhr in Alarmbereitschaft, weil fehlender Schnee, Trockenheit und Nordföhn die Lage dramatisch zuspitzten. Bricht ein Brand im unzugänglichen Gelände aus, sind die Wasserreserven vor Ort zentral. Am Monte Bar, auf der Alpe di Cottino und in Sonvico wurden fixe Löschtanks mit tausenden von Litern angelegt. Von dort können Helikopter das Wasser im Fünfminutentakt zu mobilen Löschwannen möglichst nah am Brandherd fliegen. So hat die Bergfeuerwehr am Boden überhaupt eine Chance, den Kampf gegen die Flammen zu gewinnen.
Möchten Sie mehr über die vier Bergtäler erfahren oder sie auf einer Wanderung erkunden, dann bestellen Sie die Broschüre kostenlos bei der Schweizer Patenschaft für Berggemeinden.